Wer sein Leben lang hart gearbeitet hat, darf keine Altersarmut erleiden. Das klingt überzeugend. Aber wie sinnvoll ist ein System, das die Rente mit der Höhe des Lohns verknüpft. Die Logik, die Arbeit/Leistung und Einkommen/Rente aneinander zu koppeln, macht offenkundig nur begrenzt Sinn, findet die Autorin Bini Adamczak.
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Wenn ich im Berliner Stadtteil Kreuzberg die Frage nach der Rente stelle, besteht die Antwort oft in spöttischem Lächeln. Von den Yoga- und Kampfsportlehererinnen, den Journalisten und Gastronominnen, den Tänzern und Lieferantinnen, den Tätowiererinnen, Künstlern und Wissenschaftlerinnen glaubt fast niemand daran. Altersarmut ist hier nichts, das aus der Zeitung bekannt wäre.
Die Zahl älterer und alter Menschen, die in Parks Flaschen sammeln, hat deutlich zugenommen. Das ist auch für Menschen, die noch einige Jahrzehnte von einer möglichen gesetzlichen Rente entfernt sind, unübersehbar. Viele kleine Selbstständige, zeitweise Hartz IV Beziehende , oder prekär Beschäftigte mit wechselnden Arbeitgeberinnen betrachten den Rentenbescheid, der einmal im Jahr im Briefkasten landet, als Nachricht aus einer Parallelgesellschaft oder aus einer anderen Zeit.
Viele können berichten, dass die Vorgängergeneration höhere Renten bezieht als sie selbst Einkommen. Eine Erfahrung, die der Soziologe Oliver Nachtwey mit dem Begriff der Abstiegsgesellschaft beschreibt. Die Zeiten, in denen die Zukunft als bessere Version der Gegenwart erwartet wurde, sind vorbei. In dieser Situation werden Stimmen laut, die versuchen, den alten Bund von Arbeit/Leistung und Lohn/Rente zu erneuern: Wer sein Leben lang hart gearbeitet hat, darf keine Altersarmut erleiden, sagen sie. Das klingt überzeugend. Aber wie sinnvoll ist ein System, das die Rente an die Höhe des Lohns koppelt?
Ist es gerecht, dass eine Million Menschen, die seit Einführung von Hartz IV nicht davon runter gekommen sind, auch im Alter arm bleiben? Dass diejenigen, die chronisch krank oder prekär beschäftigt waren, eine niedrige Rente beziehen? Und brauchen Menschen, die immer im Haushalt gearbeitet haben, weniger Geld wenn sie das 67. Lebensjahr überschreiten? Ist es also angemessen, dass Menschen, die als Frauen gearbeitet haben, im Schnitt 991 Euro Rente erhalten, Menschen, die als Männer gearbeitet haben 1362 Euro? Auch wenn wir in die Rechnung einbeziehen, dass Menschen als Frauen durchschnittlich 3,7 Jahre länger Rente beziehen denn als Männer, bleibt hier – bezogen auf die gesamte Rentenzeit von etwa 20 Jahren – ein Gender Pension Gap von fast 36.000 Euro bestehen.
Die Logik, die Arbeit/Leistung und Einkommen/Rente aneinander koppeln will, macht offenkundig nur begrenzt Sinn. Aber sie hat auch nur wenig Bezug zur Realität. Es gibt Menschen, die verdienen in einer Stunde nicht das 1,2-fache, nicht das Doppelte oder zehnfache, sondern das zehntausendfache wie andere. Und das nicht selten sogar ohne Arbeit. Etwa als Rentier oder Rentière. So werden Menschen bezeichnet, die von Zahlungen aus Aktien, Immobilien oder ähnlichem leben. Der BMW-Erbe Stefan Quandt hat 2018 pro Monat 51,8 Millionen Euro erhalten. Für den Besitz von Aktien. Das sind 622 Millionen Euro im Jahr. Eine geschlechtsbereinigte Durchschnittsrente betrug in Deutschland im selben Zeitraum 1219 Euro monatlich oder 14.628 Euro im Jahr. Von dem Geld, was der Rentier Quandt in einem Jahr bekommt, könnte eine ungeschlechtliche Rentnerin über 42.000 Jahre lang Rente beziehen. 42.384 Jahre, um genau zu sein. So alt werden die wenigsten.
Vielleicht ermöglicht die Krise des Rentensystems, einige seiner Prinzipien neu zu überdenken. Der Begriff der Rentenversicherung legt die Vorstellung nahe, ihre Mitglieder bekämen das, was sie im Laufe ihres Erwerbsleben einzahlen, später als Rente wieder ausgezahlt. Die Vorstellung trügt jedoch. Umlagefinanzierung bedeutet, dass die heutigen Renten von den heutigen Erwerbstätigen bezahlt werden. Warum sollten ausgerechnet diejenigen, die gestern besonders reich waren, morgen besonders viel Geld ausgezahlt bekommen? An diese Fragen schließen sich andere an: sollten einige Menschen überhaupt höheren Anspruch auf den gesellschaftlichen Reichtum haben als andere? Ist ihre Arbeit denn anstrengender, ihr Leben mühsamer, ihr Bedarf höher? Die Krise der Rente legt es nahe, nach einem anderen Prinzip im Umgang mit dem gesellschaftlichen Reichtum zu suchen. »Wer leistet, soll gut entlohnt werden«, funktioniert offenkundig nicht. Wie wäre es mit: »Wer lebt, soll gut leben können«?
Chris Grodotzki
Bini Adamczak (Berlin) arbeitet hauptsächlich als Autorin. 2017 erhielt sie internationale Aufmerksamkeit als ihr Buch Communism for Kids in den USA einen rechten shitstorm auslöste. Zuletzt erschienen Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution in der edition assemblage und Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende in der edition suhrkamp. Adamczaks Texte sind in über 20 Sprachen übersetzt.
Dieser Text ist Teil unserer Kolumne zum Theme Rente. Hier finden Sie regelmäßig neue Beiträge - von Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Verbänden und Gewerkschaften.
Die Meinungen und Äußerungen der Autorinnen und Autoren dieser Kolumne entsprechen nicht zwangsläufig den Positionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
DGB-Stellungnahme zum "Rentenpaket I" - Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz): "Der Gesetzentwurf ist in seinen Grundzügen und in wesentlichen Teilen zu begrüßen. In einigen Details und insbesondere bei der Finanzierung muss jedoch nachgebessert werden."